Auch in diesem Jahr haben Schülerinnen und Schüler der 8. Klassen im Rahmen des Philosophie-Unterrichts Essays zu einem von vier vorgegebenen Zitaten unterschiedlicher Philosophinnen und Philosophen verfasst. Als beste Arbeit der Schule wurde die von Helena Dorner (8c, betreut von Mag. Manuela Killer) ausgewählt und in weiterer Folge beim Landeswettbewerb der Philosophie-Olympiade eingereicht.

 

Gegen starke Konkurrenz ist es unserer Schülerin Helena DORNER (8c) gelungen, den sechsten Platz im steirischen Landesbewerb der Philosophie-Olympiade (www.philolympics.at) zu erreichen. Mit einem philosophischen Essay zu einem Zitat der spanischen Philosophin Marina Garcés (Neue radikale Aufklärung) konnte sie die Jury überzeugen.

Wir gratulieren sehr herzlich!

Für das Philosophie-Team
Mag. Ulrike FERSTL

 PhilowettbewerbDorner

Thema:

Was aber wäre, wenn wir es wagten, die Beziehung zwischen Wissen und Emanzipation neu zu denken? […]. Doch genau das ist der lähmende Effekt, auf den die Machthaber heute abzielen: Sie ziehen unsere Fähigkeit, uns selbst zu bilden, um gemeinsam eine bewohnbarere und gerechtere Welt aufzubauen, ins Lächerliche. Man bietet uns jede Menge Gadgets zur Rettung an: Technologien und Wunschdiskurse. Leader und Fahnen. Kürzel. Bomben. Wir werden in Projekte mit delegierter Intelligenz hineinmanövriert, bei denen wir Menschen endlich so dumm sein können, wie wir es schon zu sein bewiesen haben, weil die Welt und ihre Machthaber an unserer Stelle intelligent sein werden. Eine smarte Welt für ihre unheilbar dummen Bewohner.

Marina Garcés: Neue radikale Aufklärung. Turia + Kant, 2019, S. 13

 

Ob es Substanzen oder Verhaltensweisen, gesellschaftliche Strukturen oder Technologien sind: Wir alle sind von etwas abhängig und nicht immer reflektieren wir richtig darüber. Können wir vollständig unabhängig sein und ist das erstrebenswert? Wann sollten wir selbst denken und wann ist es besser, das anderen Menschen, Institutionen oder Geräten zu überlassen? Auf der Suche nach dem besten Weg, uns emanzipiert und selbstbewusst zu organisieren, begleiten wir die Jugendliche E. durch verschiedene Gesellschaften und Szenarios mit unterschiedlichen Vorstellungen von Regierung und Emanzipation.

Zunächst liegt der Versuch nahe, absolute Unabhängigkeit zu erreichen, indem man sowohl die sozialen Strukturen als auch den technologischen Fortschritt, auf deren Basis wir alle leben, von dem wir demnach abhängig sind, entfernt. In diesem Szenario lebt E. also ohne Familie oder Freunde, die ihr helfen könnten, vermutlich im Freien, und muss sich jeden Tag aufs Neue Nahrung, Wasser und einen Schlafplatz suchen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit fehlen ihr die Zeit und die Ressourcen, jemals vorauszuplanen und ihr Leben auf lange Sicht zu erleichtern, weil ihre gesamte Energie jederzeit aufs momentane Überleben verwendet wird. Noch wahrscheinlicher ist E. bereits als Baby oder Kleinkind verstorben. Ist E. also emanzipiert? Nein. E. wird in ihren Entscheidungen zwar nicht durch etwaige Abhängigkeiten von anderen Personen beeinflusst, das liegt allerdings daran, dass ihr einerseits kaum Entscheidungen zu treffen bleiben und ihr andererseits sowohl die Zeit als auch die Ressourcen fehlen, über ihre Entscheidungen richtig nachdenken zu können. Alle Entscheidungen, die sie dennoch trifft, basieren auf ihrem Überlebensinstinkt—folglich ist sie in etwa so emanzipiert wie jemand, dem gerade eine Pistole gegen den Kopf gehalten wird.

Eine gewisse Grundsicherheit ist also eine Grundvoraussetzung für Emanzipation. Seit Anbeginn der Menschheit schaffen wir uns diese, indem wir Gruppen bilden, Aufgaben verteilen und uns aufeinander verlassen. Wir bilden eine Gesellschaft. E. kann sich in dieser Gesellschaft im Idealfall auf ihre Stärken konzentrieren—sie hat Zeit und Energie, um beispielsweise bessere Methoden zum Schutz vor Hunger, Kälte oder anderen Gefahren zu entwickeln, während ihre Grundbedürfnisse und ihre Sicherheit von anderen Menschen garantiert werden. Sie wird sich auf ein Gebiet spezialisieren, in dem sie für sich selbst, andere Leute und zukünftige Generationen sorgen kann, während sie in allen anderen Gebieten von anderen abhängig ist. In anderen Worten entstehen mit der Gesellschaft drei Dinge, die für diese Diskussion essentiell sind: Technologien, Abhängigkeiten und der Raum, über diese Dinge nachzudenken.

Die reine Existenz von Gesellschaft, egal wie diese aufgebaut sein mag, ist folglich die Wurzel von sowohl Emanzipation als auch Abhängigkeit. Es ist unmöglich, für sich selbst unabhängig zu denken, ohne auf einer anderen Ebene andere für sich denken zu lassen. An dieser Stelle soll gesagt sein, dass Emanzipation nicht dasselbe ist wie komplette Unabhängigkeit, die, wie erläutert, ohnehin unerreichbar ist. Emanzipiert zu sein bedeutet lediglich, sich seiner Abhängigkeiten bewusst zu sein und die Macht zu haben, sich aus ihnen befreien zu können, wenn nötig oder gewünscht. Ob E. in der Gesellschaft emanzipiert ist oder nicht, hängt davon ab, wie diese Gesellschaft aufgebaut ist und welche Position sie darin hat.

Wieso also haben wir das Problem, das Marina Garcés beschreibt? Das liegt in erster Linie daran, dass wir als Menschen moralisch fehlbar sind. Völlig unabhängig davon, ob man glaubt, dass die Menschheit von Grund auf gut oder schlecht ist, ist es unbestreitbar, dass Menschen Dinge tun, die Unrecht sind: Sie nehmen, was ihnen nicht gehört, wenden Gewalt an und töten. Selbstverständlich könnte man dieses von mir wahrgenommene Unrecht als ein Ergebnis der Prägung meiner Gesellschaft betrachten, allerdings genügt es, wenn die Menschen in der Gesellschaft ein Unrecht wahrnehmen, was immer es auch sein mag. Um dieses Unrecht auszugleichen, bilden wir Rechtssysteme und mit ihnen Regierungssysteme, die entscheiden, welches Recht befolgt wird. Diese Systeme funktionieren allerdings nur, weil sie von der Mehrheit als gültig angenommen werden. Eine Grenze, eine Regel oder ein Gesetz, das niemand befolgt, akzeptiert und forciert, ist machtlos. Wir akzeptieren Gesetze und weitergehend Regierungen als Institutionen, weil sie uns nicht nur einschränken, sondern vor allem voreinander schützen. So gesehen sind wir von unserer Regierung ebenso abhängig wie von unseren Mitmenschen. Allerdings heißt das auch, dass eine Regierung, die niemals hinterfragt wird, und damit auch eine Regierung, bei der das gar nicht geschehen darf, wesentlich einfacher aufrechtzuerhalten ist als eine, in der das ständig passiert. Es liegt also in der Natur einer Gesellschaft, dass sie leichter zu führen ist, wenn die Menschen darin nicht emanzipiert sind.

Trotzdem besteht eine Gesellschaft idealerweise aus emanzipierten Teilnehmern. Die Rechts- und Regierungssysteme, die aus ihr hervorgehen, setzen sich, wie sie selbst, in der Regel aus Menschen, die nicht nur moralisch, sondern auch bezüglich ihrer Fähigkeiten fehlbar sind. Aus Unwissenheit, Unfähigkeit oder Unehrlichkeit treffen sie möglicherweise furchtbare Entscheidungen mit noch furchtbareren Konsequenzen.

Eine offensichtliche Lösung scheint es, ganz auf Regierung und Recht zu verzichten, womit dieses Machtverhältnis aufgelöst wäre. Man muss allerdings bedenken, dass Machtverhältnisse nicht mit einer Regierung beginnen. In dieser Welt könnte E. von anderen Menschen mit mehr Wissen, Können, Kraft, Alter oder Besitz ohne große Konsequenzen betrogen, missbraucht oder getötet werden, es sei denn, sie ist die Schlauere, Geschicktere, Stärkere, Ältere oder Reichere. Der Schutz, den wir von unserem Rechtsystem einfordern, fehlt ihr und es gibt keine Möglichkeit, irgendeine Form von Gerechtigkeit einzufordern.

Da das Fehlen eines Rechts- und Regierungssystems somit nicht zielführend ist, bleibt uns die Möglichkeit unsere Regierung zu verbessern, um jegliche Art von Verfehlung auszugleichen. Was macht die beste Regierung? Erfahrung? Jugend? Reichtum? Charisma? Über viele Zeitalter und Generationen hinweg gibt es verschiedene Ansichten, welche Eigenschaften jemanden gute Entscheidungen treffen lassen. In unserer Gesellschaft ist (wahrgenommene) Intelligenz eine dieser Eigenschaften. In diesem Licht erscheint es logisch, den klügsten Menschen das Regieren zu überlassen. Abgesehen von den praktischen Problemen einer solchen Lösung (Wie bestimmt man Intelligenz objektiv?) hat auch diese Theorie einen entscheidenden Schönheitsfehler: Gerechtigkeit ist komplexer, als dass sie durch eine Eigenschaft allein gewährleistet werden könnte, auch wenn diese, wie im Fall der Intelligenz, durchaus hilfreich sein kann. Viele Serienkiller sind beispielsweise hochintelligent; wer mehrstellige Divisionen im Kopf rechnen kann ist möglicherweise trotzdem korrupt. Außerdem entsteht durch dieses Vorgehen noch ein weiteres gesellschaftliches Problem. E. wird in dieser Welt von Geburt an erklärt, wer Urteilsvermögen hat und wer nicht, wer der Macht würdig ist und wer nicht. Das ist nicht so weit entfernt von Problemen und Vorurteilen, mit denen wir heute immer noch zu kämpfen haben, Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Muttersprache oder Geschlecht. Es ist nicht sinnvoll, Menschen kategorisch für besser oder schlechter zu erklären, egal auf welcher Eigenschaft wir diese Annahme basieren.

Egal von welchen Menschen wir uns regieren lassen, sie sind nicht perfekt. Neben diversen Charakterfehlern sind wir alle voreingenommen, ungenau, müde und launisch. Wieso also überlassen wir überhaupt uns selbst das Ruder? Wieso überlassen wir die Entscheidungen nicht jenen, die diese Fehler niemals machen? Das ist der Moment, in dem wir in die Denkfalle tappen, die Garcés erläutert. Der ewige Versuch, als Menschen vollkommen gerecht zu sein, erscheint nicht nur als menschlich unerreichbar, er fordert auch ständige Kraft und Aufmerksamkeit. Zu denken, oder noch schlimmer, Verantwortung für irgendetwas, und sei es man selbst, zu übernehmen, ist unfassbar anstrengend. Natürlich ist es verlockend, diese Anstrengung aufzugeben und Systemen zu überlassen, die vermeintlich fehlerlos sind. Aber diese Annahme ist irreführend. Zunächst darf man nicht vergessen, dass diese Systeme menschengemacht sind—daher erben sie viele Vorurteile und falsche Annahmen von ihren Machern. Noch wichtiger, ein Computer kann überhaupt nicht denken. Er folgt (von Menschen erteilten) Befehlen blind. Er kann nicht sehen, er kann nichts erkennen: er vergleicht lediglich statistische Datenpunkte. Er hat kein eigenes Bewusstsein und keinen Sinn für Moral, richtig oder falsch. Computer machen ständig Fehler und fast immer sind es solche, die ein Mensch niemals machen würde. Aber anders als einem Menschen fehlt ihm die Fähigkeit, seine eigenen Fehler zu identifizieren.

Doch selbst wenn man das außer Acht lässt (schließlich wird Technik immer weiterentwickelt), ist eine menschliche Gesellschaft, die von nicht-Menschen gesteuert wird, nicht erstrebenswert. Ebenso wie es für uns als Einzelne vorteilhaft ist, unsere Abhängigkeit innerhalb der Gesellschaft zu kennen und ändern zu können, ist dieses Bewusstsein auch für die Menschheit als Gesamtes wünschenswert. In jeder neuen Generation ergeben sich schließlich neue Probleme, die die ganze Gesellschaft betreffen und neue Lösungsansätze erfordern. Selbst wenn eine menschengemachte, künstliche Vernunft auf diese Probleme eingehen kann, so wird sie irgendwann an die Grenzen stoßen, an denen entweder reine Berechnung wertlos ist oder an der die Vorstellungskraft ihrer ursprünglichen Programmierer endet. In diesem Fall wären E. und ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht. Sie hätten keine Möglichkeit, eigene Entscheidungen im Sinne der Menschheit zu treffen; vermutlich wären sie sich der Gefahr, in der sie sich befinden, gar nicht bewusst. Noch schlimmer: Wahrscheinlich hätten sie verlernt, wie man das überhaupt macht.

Wir kommen also zu dem Schluss, dass Menschen einerseits Gemeinschaft und die damit verbundenen Abhängigkeiten brauchen, allerdings auch eine ordnende Kraft, die für Recht und Ausgleich sorgt. Diese muss jedoch menschlich sein und darf nicht auf irgendeiner menschlichen Eigenschaft basieren, damit Diskriminierungen und Ungleichgewicht vermieden werden. Die einzige Möglichkeit, um das zu gewährleisten, ist, dass wir uns alle gegenseitig kontrollieren. Wir alle müssen sowohl Kontrolleur als auch Kontrollierter sein, zu jeder Zeit. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, wie etwa Gewaltenteilung, das Kollegialitätsprinzip, eine Beschränkung, wie lange eine Gruppe oder Person regieren darf, und so weiter und so fort. Die Demokratie selbst ist Ergebnis dieses Bemühens. Natürlich ist es nahezu unmöglich, dieser Kontrollpflicht zu jeder Zeit nachzukommen, weil wir wiederum keine perfekten Menschen sind und nur begrenzte Ressourcen haben. Dennoch muss E. (im Angesicht der drohenden Konsequenzen und des Mangels besserer Alternativen) es unbedingt versuchen—im Sinne der Menschheit selbst und auch zu ihrem eigenen, persönlichen Vorteil.

Helena Dorner, 8c

   
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